Myanmar – Wandel in einer Mangelgesellschaft

DER Allzweckmotor, hier eine Knatterbüchse nahe Pindaya

Myanmar ist ein armes Land. Bis heute. Und Not macht bekanntlich erfinderisch. Seitdem ich vor mehr als vierzig Jahren das erste Mal hierher kam, bewunderte ich das Improvisationstalent seiner Menschen. Nehmen wir mal die laut knatternden Motoren aus chinesischer Produktion, die nicht nur am Inle-See unser Herz und unsere Ohren erfreuen. Bei ihnen handelt es sich nicht etwa um Bootsmotoren, sondern um Allzweckmotoren. Natürlich gibt es auch Boote mit modernen Motoren. Die Firma Indevi z. B. bietet Kähne an, auf denen sich die Gäste sogar unterhalten können! Allerdings sind die viermal so teuer wie die normalen Knatterboote. Und das kann oder will sich auch nicht jeder leisten. Doch die Verwendung dieser Motoren ist beileibe nicht auf Boote begrenzt. Sie bieten schier unbegrenzte Möglichkeiten. Sei es, dass man sie als Antrieb für Reismühlen und Pumpen verwendet oder für die zusammenschusterten Transporter (siehe Bild), die man allenthalben sieht. Die Variationen sind fast so unbegrenzt wie die Abgasmengen, die ihnen entströmen …

Mazda-600-Taxis in Yangon
Alte Busse unterwegs

Es gab aber auch schon immer richtige Autos im Lande. Neben klapprigen Straßenkreuzern sah man ein paar englische Austins und burmesische Ko-Produktionen mit der japanischen Firma Mazda. Aber ohne Wankel-Motor. Dafür stolze 360 oder sogar 600 ccm. Die mit vier Rädern (immer blau!) erinnerten an den DDR-Trabi, die mit dreien (auch  Mazda-Kooperation) an den 50er Borgward Goliath. Auffallend war das Fehlen von Zweirädern. Wie wir später hörten, waren die in Yangon verboten! Ein echter Knaller waren die Busse: Uralte grüne Bedfords und Chevrolets aus den 40er Jahren! Umgebaute Militär-LKWs aus Kanada mit Holzaufbauten! Die Destinationen konnte man nicht lesen, alles in Brezelschrift. Und die Leute saßen darin, als wenn es das Normalste von der Welt sei, in so einem antiken Teil herumzufahren. Bis dahin hätte ich so etwas eher als Jahrmarktsattraktion betrachtet.

Ein Tor aus Sandblechen vor einer Edelstahlwerkstatt in Pyin Oo Lwin
PVC-Rohr-Shop - hier werden Designerträume wahr
Kinder in einer Edeslstahlwerkstatt in Pyin Oo Lwin

Ich habe die Entwicklung der den letzten vierzig Jahren in Myanmar in drei Phasen aufgeteilt:

  1. Die Sandblechphase
  2. Die PVC-Rohr-Phase und
  3. Die Edelstahlphase

Diese Materialien wurden für mich zu Ikonen ihrer Stilepoche.

Ein Zaun aus Sandblechen, Anawrahta Street, Yangon

Ein Sandblech ist ein Hilfsmittel zur Bergung von festsitzenden Fahrzeugen und zum Bau von Landebahnen auf Feldflughäfen oder kurzen Straßenstücken, besonders auf Brücken. Sandbleche werden daher auch Luftlandebleche oder Bodenbelagsbleche genannt. Es handelt sich um grob gelochte, etwa 2 m x 60 cm große und 3 bis 5 mm dicke Platten aus Blech. Sie haben an den Längsseiten eine Verzahnung, mittels derer sie miteinander verbunden werden können. Auf eine ebene Fläche aus Sand, Erde oder Ähnlichem gelegt kann innerhalb kurzer Zeit ein großes Areal zur Nutzung durch Flugzeuge und schweres Gerät nutzbar gemacht werden. Ohne dass die Reifen einsinken oder gleich eine Schlammgrube entsteht.

So weit, so gut. Aber das erklärt nicht ihre allgegenwärtige Verbreitung in diesem Land. An jeder Ecke waren sie zu sehen und wurden für alle möglichen Zwecke verwendet. Am liebsten für Zäune, aber auch Gartenbänke, Türen und andere Gebrauchsgegenstände wurden daraus gemacht. Außerhalb Burmas sind sie eher relativ selten zu sehen und so fragte ich mich immer, wo um Himmels willen diese ganzen Sandbleche herkommen. Anfangs dachte ich, dass sie vielleicht Überbleibsel des Krieges seien, aber das erschien mir angesichts ihrer Menge und des guten Zustandes zunehmend unwahrscheinlich. Zudem handelt es sich um einen Gegenstand, der selten in der Hand von Privatleuten zu sehen ist. Ich verbinde sie eher mit dem Militär. Ich war bis heute nicht in der Lage herauszufinden, wo die Dinger alle herkommen.

Screen aus PVC-Rohr mit Cellophanfolie in Restaurant
Pergola aus PVC-Rohr in einem Hindu-Tempel in Maymyo (Detail)
Blumenständer aus PVC-Rohr

Das Sandblech wurde mit dem Aufkommen der Stilikone Nr. 2, das hellblaue PVC-Rohr, von seinem Spitzenplatz verdrängt. Die Rohre werden vermutlich aus China importiert. Ich kenne sie aus meiner Karriere im Sanitärgewerbe, z. B. für Abflussrohre. Die waren aber immer grau, denn so schön sind sie ja auch nicht, dass sie unbedingt auffallen müssten. Aber vielleicht ist man in China stolz darauf? Sie werden vor allem für Wasserleitungen (sowohl Zufluss als auch Abfluss) verwendet. Was hierzulande kein Problem ist, da der Wasserdruck in Myanmar niedrig ist und die meisten Leitungen nach dem Gefälleprinzip funktionieren. In Deutschland würden die Dinger aufgrund des Wasserdrucks an den Klebestellen auseinander fliegen. Für den Betrieb von Waschmaschinen usw. muss man hierzulande eine Pumpe einbauen.

Darüber hinaus können sie in vielfältiger Weise verwendet werden. Im Gefolge der Corona-Krise finden sie z. B. oft Verwendung als Abschirmung. Man geht mit seiner Frau, mit der man Tag und Nacht zusammenlebt, zu einem romantischen Dinner in ein Restaurant. Dort wird dann der ‚Screen‘ aus PVC-Rohr und Cellophanfolie in die Mitte des Tisches gestellt. Man kann sich allerdings nebeneinander setzen, dann braucht man keine Abtrennung!

Darüber hinaus bietet PVC-Rohr ungeahnte Möglichkeiten: als Tischgestell, als Wäschetrockner, als Bilderrahmen – um nur drei zu nennen. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Ich habe sogar schon gesehen, dass die Dinger als Pfeiler für den Bau von Hütten eingesetzt werden. Vermutlich billiger als Bambus! Und haltbarer. Die für mich schönste Verwendung hat ein Hindu-Tempel in Pyin Oo Lwin gefunden. Die ganze Gartendekoration wurde aus diesem Material zusammengebastelt. Unglaublich und schön zugleich. Auch alte Autoreifen fanden dort Verwendung als Blumenkästen.

Moderne trifft Vergangenheit: Eine Edelstahlswerkstatt zeigt ihre Erzeugnisse vor einem Gartenzaun aus Sandblechen

Edelstahl aus China ist der neueste Hit! Das Zeug ist unschlagbar billig: Ein Rohr von 6 m Länge mit einem Durchmesser von einem Zoll kostet fünf Euro. Vermutlich haben die Chinesen ihre Kontingente in den überseeischen Exportmärkten erschöpft und dumpen das Zeug jetzt auf dem burmesischen Markt. Da die Arbeitskosten ebenfalls niedrig sind, kann man die tollsten Sachen daraus machen. Es glitzert auch viel schöner als die oben genannten PVC-Rohre – und stabiler sind sie dazu. So werden gern Geländer und Betten daraus gebaut, dazu Planengestelle für Pickups. Aber auch Predigtstühle für Mönche. Im Grunde genommen gibt es kaum etwas, was man nicht daraus bauen kann … Ich habe mir eine Poolheizung daraus bauen lassen: 40 Meter ½-Zoll-Rohr mit 20 Windungen kosteten mich 70 Euro. Und ich habe wahrscheinlich viel zu viel bezahlt …  

Nun fragt sich jeder: Wieso verwenden die kein Holz? Myanmar ist doch die Heimat der Teakbäume! Ganz einfach: Holz ist viel teurer als Edelstahl!

Der letzte Schrei: Predigtstuhl aus Edelstahl, gesehen in Pyin Oo Lwin
Waschtisch auf dem Bahnhof von Pyin Oo Lwin, kombiniert aus Edelstahl, Lochblech und PVC-Rohr
Signalsystem auf dem Bahnhof von Pyin Oo Lwin

Die burmesische Eisenbahn (Myanmar Meeyahta) zeigt sich in dieser Hinsicht ebenfalls sehr kreativ. Am Bahnhof von Pyin Oo Lwin (Maymyo) wurde eine komplette große Bühne (Bild) aus Eisenbahnschienen gebaut. Auf dem Bahnsteig dient ein kurzes Schienenstück als Signalgeber. Wenn der Zug kommt, haut einer mit einem Eisenklöppel dagegen – nicht zu überhören! Die Ladestation für ‚Handys‘ (ja, so etwas gibt es hier!) ist aus dem bewährten Edelstahlrohr gefertigt, ebenso wie das anlässlich der Corona-Epidemie aufgestellt Waschbecken. 

Festbühne aus Eisenbahnschienen und Sandblechen vor dem Bahnhof von Pyin Oo Lwin
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